Archive und Forschung – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Archive und Forschung – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Organisatoren
Archivberatungs- und Fortbildungszentrum des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR)
Ort
Pulheim-Brauweiler und digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.10.2021 - 07.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Frauke Placke, Archivberatungs- und Fortbildungsstelle des Landschaftsverbands Rheinland, Pulheim-Brauweiler

Im Fokus des 54. Rheinischen Archivtags stand die Diskussion der Beziehung von Archiven und geschichtswissenschaftlicher Forschung und die Fragestellung, wie die Zusammenarbeit beider verbessert werden könne. Begleitend zu den Vorträgen wurde in Form eines Onlineblogs über den Verlauf der Tagung berichtet1.

Der erste Tag war geprägt von Berichten über aktuelle Themen aus dem Archivwesen im Rheinland. Nach einem Vortrag zur Rettung der Archive in den vom Hochwasser im Juli 2021 betroffenen Gebieten von BETTINA RÜTTEN und MATTHIAS SENK (beide Pulheim-Brauweiler) folgte eine von GREGOR PATT (Pulheim-Brauweiler) moderierte „Aktuelle Stunde“ mit weiteren aktuellen Nachrichten aus dem rheinischen Archivwesen. Der Abendvortrag von APOSTOLOS TSALASTRAS (Oberhausen) beschäftigte sich mit Möglichkeiten und Grenzen eigener Forschungstätigkeit von Kommunalarchiven.

Zu Beginn des zweiten Tages setzte HIRAM KÜMPER (Mannheim) sich in seiner Keynote aus der Perspektive der Landes- und Regionalgeschichte mit der Frage auseinander, wie wieder mehr Studierende zu einer quellenbasierten Forschung zu Themen der Landes- und Regionalgeschichte in den Archiven angeregt werden könnten. Neben der Notwendigkeit einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit für die Landes- und Regionalgeschichte sei die größte Herausforderung die Verbesserung der Zusammenarbeit der Universitäten und der Archive. Dies zeige sich in der fehlenden Wertschätzung des Engagements der Archivar:innen an den Universitäten, obwohl diese „Ehrendienste“2 nicht Teil der in den Stellenbeschreibungen festgelegten Aufgaben seien und außerhalb der Dienstzeit wahrgenommen würden. Eine Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen Lehrenden und Archivar:innen könnte auch die Ausrichtung der Angebote des Archivs auf die universitären Curricula bewirken. Dies zeige sich bereits bei der Arbeit der Museen, in denen diese Arbeitsweise bereits seit einiger Zeit verfolgt werde. Sodann betonte Kümper die Vorteile für die Lehre, die sich durch eine Förderung der quellenbasierten Arbeit in Archiven ergeben würden. Damit könnten Plagiate verhindert und schwächere Student:innen gefördert werden, da die Quellen als Orientierungspunkt dienen könnten. Zudem könne eine „Entzauberung“ der Historischen Hilfswissenschaften „als Spezialwissen“3 erreicht werden. Zum Abschluss stellte Kümper die Aufgaben vor, die von beiden Seiten noch erledigt werden müssten. An die Universitäten und Lehrstuhlinhaber:innen gewandt forderte er, wieder mehr Regional- und Landesgeschichte zu lehren und Seminare anzubieten, die aus regionalen oder lokalen Archivquellen bestritten werden könnten. Von den Archiven forderte er eine rigorose Bereitstellung der Findmittel und eine transparente Offenlegung der Arbeitsprozesse im Archiv, indem auf die zentralen Fragen von Seiten der Studierenden eingegangen werde: „Darf fotografiert werden? Wie funktioniert Archiv? Was kostet Geld? Womit darf ich stören, womit nicht?“4 Zudem forderte er einen besseren Austausch zwischen Archiven und Universitäten über mögliche Forschungsthemen, die von den Archiven selbst nicht bearbeitet werden können. In diesem Zusammenhang schlug er eine Art Schwarzes Brett für unbearbeitete Forschungsthemen vor.

In der anschließenden Debatte stand insbesondere die Frage im Raum, wie die Wertigkeit von Seminaren mit Archivrelevanz und dementsprechend höherem Arbeitsaufwand verbessert werden könnte, da die Studierenden ihre Veranstaltungen häufig nach „Aufwand und Leistung“5 auswählen, so Holger Berwinkel. Er gab zudem zu bedenken, dass viele Dozierende selbst keine archivkundliche Ausbildung erhalten hätten und fragte, wie mit diesem Problem umzugehen sei. Frank Bischoff ergänzte die Frage nach der Herausforderung der born digitals als Ergänzung für die Hilfswissenschaften und die Rolle digitalisierter Quellen für die Studierenden.

Die Bedeutung der Kooperation zwischen geschichtswissenschaftlicher Forschung wurde auch von einer Vielzahl der nachfolgenden Beiträge hervorgehoben. HOLGER BERWINKEL (Göttingen) warb für eine verstärkte Zusammenarbeit von Geschichtswissenschaften und Archiven in der Weiterentwicklung und Beförderung der für beide Seiten so bedeutsamen Aktenkunde. Auch MARTIN ROELEN (Wesel) und CHRISTIAN BOESE (Essen) stellten die Kooperation zwischen Archiv und Wissenschaft im Bereich stadtgeschichtlicher beziehungsweise wirtschaftshistorischer Forschung als eine der wichtigsten Möglichkeiten zur Präsentation ihrer bedeutsamen Quellen heraus. Ein besonders gelungenes Beispiel der Kooperation im Bereich Historische Bildungsarbeit stellten HENRIKE BOLTE und STEFAN KLEMP (beide Dortmund) vor, die über die Zusammenarbeit des Stadtarchivs Dortmund und der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache berichteten.

Die abschließende Podiumsdiskussion fasste aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Bedeutung der nichtstaatlichen Archive für die wissenschaftliche Forschung im 21. Jahrhundert zusammen. Während LETHA BÖHRINGER (Köln) die zentrale Rolle kleiner regionaler Archive für den erfolgreichen Abschluss von Forschungsprojekten des Forschungsinstituts zur Geschichte Kölns hervorhob, betonte RALF-PETER FUCHS (Duisburg) die Möglichkeit der Vermittlung der Landesgeschichte als einer Geschichte „des Raumes, in dem wir heute leben“ und somit auch der Möglichkeit, Studierende mit Migrationshintergrund abzuholen6. Zum Abschluss nahmen die die Diskutanten die Keynote von Hiram Kümper auf und diskutierten die Frage, ob unter Studierenden in Bezug auf Archive die Schwellenangst zugenommen habe und was dagegen zu unternehmen sei. Neben der direkten Konfrontation mit unbearbeiteten Quellen wurde auch hier eine verstärkte Bereitstellung digitaler Findmittel ins Gespräch gebracht.

Insbesondere zu den Thesen Hiram Kümpers fanden rege Diskussionen statt. Ein Schwerpunkt war die zentrale Bedeutung der digitalen Bereitstellung von Findmitteln oder Beständeübersichten und die Notwendigkeit der Fortführung des Gesprächs zwischen Archiven und Universitäten7. Es wurde hervorgehoben, dass die Bedeutung von Archiven nicht nur auf die Erforschung der Frühen Neuzeit beschränkt, sondern auch für zeitgeschichtliche Fragestellungen von zentraler Bedeutung sei, wie etwa dem Kolonialismus, der historischen Veränderung der „Wahrnehmung von Geschlecht“8 oder der jüdischen Geschichte. Darüber hinaus bestand Uneinigkeit darüber, ob die Perspektive Kümpers überhaupt der Realität und den arbeitsökonomischen Zwängen der modernen Nachwuchswissenschaftler:innen entspreche9, oder ob gerade dies ein Punkt sei, an dem die Veränderung ansetzen müsse, nämlich der Archivarbeit wieder mehr Raum zu geben. Es ist zu hoffen, dass der Rheinische Archivtag 2021 einen Anstoß zu einer weitreichenden Debatte zwischen geschichtswissenschaftlicher Forschung, vor allem an den Universitäten, und den Archiven geleistet hat10.

Konferenzübersicht:

Mark Steinert (Pulheim-Brauweiler): Eröffnung und Begrüßung

Bettina Rütten / Matthias Senk (beide Pulheim-Brauweiler): Die Hochwasserkatastrophe vom 14./15. Juli 2021 im Rheinland und ihre Auswirkungen auf Archive und Archivalien

Moderation: Gregor Patt (Pulheim-Brauweiler): Aktuelle Stunde, Themen u.a.

Richard Irmler (Pulheim-Brauweiler): Oral-History-Projekt zur neuesten Geschichte der Abtei Brauweiler

Alicia Kann (Dortmund): Statusbericht zum Digitalen Archiv NRW

Gregor Patt (Pulheim-Brauweiler): Mitteilungen des Archivberatungs- und Fortbildungszentrums zu den Projekten und weitere aktuelle Mitteilungen

Moderation: Mark Steinert (Pulheim-Brauweiler): Abendvortrag und Diskussion

Apostolos Tsalastras (Oberhausen): Der Forschungsauftrag der Archive als kommunale Aufgabe

Keynote

Hiram Kümper (Mannheim): Wo sind all' die Studis hin, wo sind sie geblieben? Universität und Archiv

Sektion 1: Geschichtsforschung ohne Quellen?!

Moderation: Wolfgang Schaffer (Pulheim-Brauweiler)

Christian Keitel (Stuttgart): Die Südwestdeutsche Archivalienkunde – ein Projekt von LEO-BW

Holger Berwinkel (Göttingen): Moderne Aktenkunde als Grundlage der Archivarbeit

Hans-Werner Langbrandtner (Pulheim-Brauweiler): Quellenkundliche Projekte des Archivberatungs- und Fortbildungszentrums – noch zeitgemäß?

Sektion 2: Die Wirklichkeit: Geschichtsforschung in und aus Archiven

Moderation: Heike Bartel-Heuwinkel (Pulheim-Brauweiler)

Martin Roelen (Wesel): Archive und Stadtgeschichte

Christian Böse (Essen): Archive und Unternehmensgeschichte

Henrike Bolte / Stefan Klemp (beide Dortmund): Archive und die Aufarbeitung der NS-Geschichte

Sektion 3: Der Wunsch: Archive und Geschichtswissenschaft

Moderation: Mark Steinert (Pulheim-Brauweiler)

Podiumsgespräch mit Impulsvorträgen

Welche Bedeutung haben die Bestände von nichtstaatlichen Archiven für die wissenschaftliche Arbeit im 21. Jahrhundert?_

Podium: Frank Bischoff (Duisburg), Letha Böhringer (Köln), Ralf-Peter Fuchs (Duisburg), Dagmar Hänel (Bonn), Manfred Rasch (Bochum)

Abschlussdiskussion

Anmerkungen:
1https://lvrafz.hypotheses.org/ (6.1.2022).
2 Carla Lessing, Wo sind all die Studis hin, wo sind sie geblieben? Universität und Archiv. Hiram Kümper, Universität Mannheim, in: https://lvrafz.hypotheses.org/5046 (Stand: 5.1.2022)
3 Ebd.
4 Ebd.
5 Ebd.
6 Frauke Placke, 3. Sektion: Podiumsgespräch mit Impulsvorträgen: Welche Bedeutung haben die Bestände von nichtstaatlichen Archiven für die wissenschaftliche Arbeit im 21. Jahrhundert?, online unter: https://lvrafz.hypotheses.org/4834 (Stand: 5.1.2022).
7 Kommentare zur Keynote online unter: https://lvrafz.hypotheses.org/5046#comment-4039 (Stand: 5.1.2022).
8 Ebd.
9 „Kümpers Ansichten gehen auch an der Arbeitstechnik moderner junger Historiker vorbei. Wer setzt sich denn heutzutage noch wochenlang in ein Archiv? Was man macht, ist, dass man Findbücher durchstöbert, Signaturen abschreibt und anschließend Reproduktionen erstellen lässt, um mit diesem von seinem eigenen Arbeitsplatz zu arbeiten. Warum ist das so? Stupide Antwort: Weil sich das die meisten Jungwissenschaftler gar nicht anders leisten können…“, online unter: https://lvrafz.hypotheses.org/5046#comment-4039 (Stand: 5.1.2022).
10 Siehe dazu den Diskussionsbeitrag von Clemens Rehm unter: https://lvrafz.hypotheses.org/5046#comment-4039 (Stand: 14.12.2021); siehe auch: Clemens Rehm, Ein „Masterplan“ für die Grundwissenschaften. Module – Kooperationen – Vernetzungen, in: Étienne Doublier / Daniela Schulz / Dominik Trump (Hrsg.): Die Historischen Grundwissenschaften heute, Köln/Weimar/Wien 2021, S. 197-218.


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